„Armut frisst Demokratie“ – Interview mit Michael Häupl

Dieses Jahr wählen weltweit 3,5 Milliarden Menschen ihre politische Vertretung. Die soziale Schieflage hat in den letzten Jahren in Österreich und weltweit zugenommen und unsere Demokratie steht vielen Herausforderungen gegenüber. Mit unserem Präsidenten Dr. Michael Häupl haben wir daher über Gefahren und Chancen für die Demokratie gesprochen.

 

Herr Dr. Häupl, müssen wir unsere Demokratie verteidigen?

Dr. Michael Häupl, Präsident der Volkshilfe Wien: Unbestritten – nicht nur vor dem Hintergrund unserer Geschichte, sondern auch der Gegenwart. Umso mehr halte ich es für notwendig, dass man in Österreich und ganz Europa unsere aus der Aufklärung stammenden Werte der Demokratie verteidigt, auf die Straße geht und zeigt, dass man all das nicht will.

 

Das Vertrauen in die Demokratie sinkt. Wie lässt sich das umkehren?

Ich verstehe, dass Menschen das Vertrauen in die Politik und auch die Demokratie verlieren, wenn ihnen der Staat nicht den nötigen Rückhalt für ein soziales Auskommen bietet. Sozial Benachteiligte, Menschen ohne Staatsbürgerschaft, alleinerziehende Mütter finden kaum Anknüpfungspunkte.… Was bietet ihnen die Demokratie außer dem abstrakten Begriff der Freiheit? Was ist das für eine Freiheit, wenn du hungerst, wenn dein Kind hungert? Wer diese Grundbedürfnisse der Menschen nicht stillen kann, der wird ihr Vertrauen verlieren. Armut frisst Demokratie. Daher muss die Politik Menschen vor der Armut bewahren. Die soziale Frage ist die Kernfrage der Demokratie.

 

Wer diese Grundbedürfnisse der Menschen nicht stillen kann, der wird ihr Vertrauen verlieren. Armut frisst Demokratie.

Dr. Michael Häupl, Präsident der Volkshilfe Wien

 

Die Volkshilfe Wien hilft jenen Menschen, die nicht politisch vor der Armut bewahrt wurden. Warum ist auch das wichtig?

Wir sind gewissermaßen der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Aber es braucht eben auch Ärzte. Wenn jemand krank ist, kann ich nicht danebenstehen und sagen: „Jetzt kommt die Weltrevolution und dann wird alles besser“. Die Menschen brauchen jetzt Hilfe. Und wir versuchen, sie ihnen zu geben – von der Lebensmittelausgabe über die Wohnungssicherung bis hin zur Energieunterstützung.

 

Die Teuerung hat die finanzielle Lage vieler Menschen verschärft, eine Armutswelle ist feststellbar. Was kann man dagegen tun?

Man muss in wesentlichen Bereichen Preisregulierungen einführen, etwa bei Mieten, Energie oder Lebensmitteln. Das heißt nicht, dass ich gegen die Marktwirtschaft bin, die ist ziemlich alternativlos. Aber ich bin absolut gegen den Raubkapitalismus und für die ökologische und soziale Eingrenzung der Marktwirtschaft.

 

Eine Gefahr für die Demokratie geht auch von der Erderhitzung aus. Lässt sie sich noch aufhalten?

Ja, ich denke, das ganze lässt sich noch aufhalten, weil die Natur regenerationsfähiger ist, als man glaubt. Nur muss man dafür etwas tun, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Der Klimawandel ist ein Symptom dessen, wie wir als Menschen mit unserer Lebensgrundlage umgehen. Im Grunde genommen sollte all das, was diese ökologische Fragestellung betrifft – Kampf gegen die Erderhitzung, Erhalt der Biodiversität, Stadtökologie – zu einer Selbstverständlichkeit werden. Wenn man sich die globalen Armutsunterschiede ansieht, kann man natürlich nicht einfach afrikanischen Staaten empfehlen, gefälligst ökologisch zu werden. Von den entwickelten Ländern kann man aber sehr wohl verlangen, ihre Ökonomie so umzustellen, dass sie den ökologischen Zukunftsbedürfnissen entspricht. Das ist notwendig. Und ich finde, man sollte das mit Hoffnung angehen. Das Prinzip Hoffnung gefällt mir besser als das Prinzip Trauer.

 

Stichwort Biodiversität: Sie haben das Meer einmal als „faszinierend“ bezeichnet und damit vor allem die „winzigen Schleimfische“ und die „fantastisch bunte Welt der Sternschnecken“ gemeint.

Doridacea, ja.

Genau die werden von der Erderhitzung massiv bedroht. Die nächsten Generationen an Zoolog*innen werden sie vielleicht nicht mehr kennenlernen. Schmerzt Sie das?

Also ich glaube nicht daran, dass das niemand mehr sehen wird.

Im Museum vielleicht.

Nein nein, auch in der Natur. Es gab jüngstens Meldungen über die Korallenbleiche am Great Barrier Reef – das ist ein relativ gesehen kleiner Teil. Das soll uns aber nicht trösten, im Gegenteil: Es sollte uns dafür aufrütteln, dass wir solche Biotope in besonderem Ausmaß schützen. Die Doridacea und Blenniiden, also Sternschnecken und Schleimfische, die ich früher studiert habe, die waren alle im Mittelmeer. Ob die in der Adria noch lange zu finden sein werden ist tatsächlich fraglich. Die wichtigere Frage ist aber, wie wir die Natur erhalten oder ihr die Chance geben, sich selbst zu regenerieren. Wir müssen uns aus diversen Ökosystemen, auch wirtschaftlich, wieder zurücknehmen. Die Natur kann nicht beliebig ausgebeutet werden, das geht nicht. Sonst geht sie zu Grunde. Und wenn etwa die Fischbestände zusammenbrechen, dann haben auch die Fischer*innen keinen Job mehr.

 

Es kann nicht sein, dass wesentliche Teile der neuen Arbeiterklasse von den Wahlen, von der Partizipation an der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen sind.

Michael Häupl

 

Zurück zum Festland: In ihrem Heimatbezirk Ottakring dürfen im Herbst nur sechs von zehn Bewohner*innen wählen. Muss zur Absicherung der Demokratie ein neues Wahlrecht geschaffen werden?

Der Weg, der hier von Wien vorgeschlagen wurde, nämlich die Erleichterung der Erlangung der Österreichischen Staatsbürgerschaft, ist ein machbarer, pragmatischer. Grundsätzlich sollte man darüber diskutieren: Wer sind die neuen Arbeiter*innen? Wenn man durch den Brunnenmarkt geht, sind das dort die vielen Standler*innen – fast ausschließlich Nicht-Österreicher*innen. Das neue Proletariat sind also Migrant*innen und die dürfen nicht wählen. Wir wollen Migrant*innen erklären, wie wesentlich die Demokratie ist. Die einfachste Form der Partizipation ist das Wählen, von dem sie ausgeschlossen sind. Dann verstehe ich, wenn mir ein syrischer Arbeiter sagt: „Mag schon sein, dass die Demokratie ein wertvolles Gut ist, aber dann lasst mich daran teilhaben“. Von dieser Seite her muss man das kommunizieren: Es kann nicht sein, dass wesentliche Teile der neuen Arbeiterklasse von den Wahlen, von der Partizipation an der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen sind. Wenn der Vorschlag des Wahlrechts für Ausländer*innen nicht gut ist, dann bitte ich um andere Vorschläge. Man muss dieses Problem jedenfalls lösen.

 

Vor 100 Jahren wurde die Wiener Schulreform durchgeführt. Der Unterricht wurde modernisiert, das Schulsystem demokratisiert. Braucht es heute wieder eine Reform?

Was es mit Sicherheit braucht, ist, dass man in der Schule Demokratie, Zusammenleben und Partizipation lernt. Deine Mitschülerin, dein Lehrer ist nicht dein Feind, sondern dein Partner. Ich halte es für zentral, dieses partnerschaftliche Verhalten in der Schule zu lernen. Wenn man schon diesen alten Spruch sagt, „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir“, dann soll man das dort auch machen.

Was ich in der Schule gelernt habe: Das ist ein falsches Zitat – eigentlich hieß es „Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir“ und sollte Kritik am römischen Schulsystem üben…

Ja, das stimmt schon, das habe ich auch irgendwann einmal gelernt in der Form. Das ist schon lange her (lacht). Naja, wenn man wirklich für das Leben lernen will, geht’s ja auch um die Familie, die Freund*innen, die Sportvereine. Überall gilt: Wir müssen Partnerschaft lernen. Ich bin in den 60er-Jahren in die Schule gegangen, da habe ich diese Partnerschaft eigentlich erst im Fußballverein gelernt – und auch dort war der Trainer als Autorität, wie auch die Schule zu einem erheblichen Teil autoritär war. Das sollten wir aus meiner Sicht alles überwunden haben. Das entscheidende ist: Wir können uns nicht beschweren über „Jugendbanden“, Jugendkriminalität und solche Dinge, wenn wir nicht in der Schule diese partnerschaftliche, diese demokratische Form des Zusammenlebens auch entsprechend beibringen. Das gilt ehrlich gesagt auch für unsere eigenen Jugendlichen, da ist noch viel zu viel Paternalismus, Frauenfeindlichkeit usw. drinnen. Aber das kann man herausdiskutieren, darüber muss man einfach reden.

 

Dr. Michael Häupl ist seit 2020 Präsident der Volkshilfe Wien.

Viel geredet wurde in den letzten Jahren auch über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Wie kann man die steigende Wissenschaftsfeindlichkeit aufhalten?

Gemäß der jüngsten Studie der Akademie der Wissenschaften steigt sie derzeit nicht mehr. Das hängt natürlich auch engstens damit zusammen, dass man langsam begriffen hat, dass Impfen vielleicht doch nicht des Teufels ist, sondern etwas Vernünftiges, was die Wissenschaft erfunden hat. Als ich ein Kind war, haben wir die Polio-Impfung als ein paar Tropfen auf einem Stück Zucker gekriegt, da ist man nicht gefragt worden – das ist vielleicht auch nicht so gescheit. Aber natürlich, es ist gar keine Frage: Impfen ist der Gamechanger und war das auch gegen Covid. Ich habe in beiden Welten gelebt, Politik und Wissenschaft, und lebe ja gottseidank noch immer in beiden. Das Wesentliche ist, zu verstehen, dass sie eine verschiedene Sprache sprechen. Als Beispiel: In der Wissenschaft ist sachliche Kritik, der Widerspruch etwas erwünschtes. Die hegelsche Dialektik, also These, Antithese, Synthese, ist das Grundwesen der Wissenschaft. Die Politik hingegen versteht Kritik in erster Linie als Angriff, etwas Feindseliges. Die Wissenschaft muss verstehen, dass die Politik demokratisch legitimiert Entscheidungen zu treffen hat und die Politik verstehen, dass sie wissenschaftlich fundierte Vorschläge ernstnehmen muss.

 

Neben der Wissenschaftsfeindlichkeit ist auch die EU-Skepsis in Wien und Österreich hoch. Woran liegt das?

Ein bisschen daran, dass man alles, was man verbockt hat, auf die EU schiebt. Das hat in Österreich Tradition, Verantwortung hinaufzuschieben und zu delegieren – was in den Bundesländern nicht funktioniert, daran ist die Regierung in Wien schuld, was in den Gemeinden nicht funktioniert, daran ist die Landesregierung schuld usw. Das ist bei uns sicher stärker als anderswo. Man muss aber auch sagen: Es war schon schlimmer mit der EU-Feindlichkeit. Und ich muss auch differenzieren: Nicht jede Kritik an einer EU-Maßnahme ist europafeindlich. Ich war zwölf Jahre lang Präsident des europäischen Städtebundes. Die Politik der EU-Kommission war und ist über weite Strecken eine neoliberale. Dass hier etwa Sozialdemokrat*innen auch Kritik haben, liegt auf der Hand. Diese demokratische Kritik ist zulässig.

 

Es gibt ja noch immer Leute, die sagen, wenn man die EU als großes Friedensprojekt bezeichnet, hat man einen Vogel. Gut, ich habe den Vogel.

Michael Häupl

 

Sie haben die EU einmal als das vielleicht wichtigste Projekt der Weltgeschichte beschrieben. Sind wir uns dessen bewusst genug?

Nein, das ist uns nicht bewusst genug. Es gibt ja noch immer Leute, die sagen, wenn man die EU als großes Friedensprojekt bezeichnet, hat man einen Vogel. Gut, ich habe den Vogel. Man braucht sich nur die Geschichte ein bisschen anschauen: Fast alle großen Kriege sind bis vor gar nicht allzu langer Zeit von Europa ausgegangen. Die Europäische Union hat ihre Schwächen – natürlich. Aber sie ist ein demokratisches Konstrukt und ein Friedensprojekt außerordentlichen Ausmaßes, gerade zwischen den beiden früher so verfeindeten Ländern Frankreich und Deutschland. Ich bin also ein vollkommener Anhänger der EU, sie ist ein tolles Projekt. Und trotzdem könnte sie noch toller sein.

 

Wenn Ihnen jemand sagt, zu den EU- oder Nationalratswahlen zu gehen bringt nichts: Was antworten Sie?

Man sollte sich nicht selbst aus dem demokratischen Prozess ausklinken. Es mag schon sein, dass Wählen vielen zu wenig ist und ich neige dazu, ihnen auch Recht zu geben. Wenn man lediglich Parteien wählen kann, delegiert man all seine Hoffnungen an sie und kann auch enttäuscht werden. Trotz aller Probleme halte ich die parlamentarische Demokratie aber für eine gute Staatsform – ich kenne keine bessere. Deshalb: Ja zum Wählen, und zwar für möglichst viele Menschen, nicht nur die Hälfte der Bevölkerung…

 

Die Leute müssen das Gefühl haben, sie können ihr Leben tatsächlich selbst bestimmen.

Michael Häupl

 

Wie soll unsere Demokratie in 50 Jahren aussehen?

Ich trete für ein Mehr an Demokratie im Alltag ein. Das Partizipieren an der Gestaltung seiner eigenen konkreten Umwelt – das halte ich für ziemlich wichtig. Warum sollen nicht zum Beispiel Anrainer*innen bei der Gestaltung eines Parks oder einer Straße mitbestimmen können? Das ist gelebte Demokratie, das ist Alltagsfreiheit. Die Leute müssen das Gefühl haben, sie können ihr Leben tatsächlich selbst bestimmen. Wenn ich aber die ganze Zeit damit beschäftigt bin, zu schauen, dass meine Kinder am Monatsende noch etwas zum Essen kriegen, interessiert mich der Park in meinem Grätzl eher weniger. Daher noch einmal: Armut bekämpfen ist das Wichtigste in der Demokratie. Wenn wir das tun und die Demokratie in den Alltag der Menschen bringen, dann werden wir viel mehr Menschen für die Demokratie begeistern können.

 

Das Interview führte Mati Randow.